Dienstag, 7. Oktober 2008

Die Auferstehung eines Unbequemen

Es ist der späte Sieg des ewigen Zweiten: Mit Horst Seehofer setzt sich ein Mann an die Spitze der CSU, dessen politische Karriere einmalig ist in der deutschen Politik. Schon oft war er gescheitert, jetzt steht er ganz oben – in Ehrfurcht erstarrt. Kann der künftige Ministerpräsident die Erwartungen erfüllen, die er selbst geweckt hat?

Der Mann, der an diesem Abend in der Lobby eines Hotels vor einem Glas Bier sitzt, wirkt müde und mausgrau. Es ist der Tag, an dem sein „Lebenstraum“ in Erfüllung ging, es ist die Stunde seines größten Triumphs. Doch Horst Seehofer ist nicht zum Feiern zumute. Zwei Nächte hat der 59-Jährige nicht geschlafen, stattdessen Telefonlisten abgearbeitet und Gespräche geführt. Die Menschen, die nun zu später Stunde an ihm vorbeilaufen, die ihm die Hand hinstrecken wollen, um zu gratulieren, nimmt er kaum wahr. Der Zwei-Meter-Mann ist ins Sofa versunken und in Gedanken. Es scheint, als sei Seehofer auf sich allein gestellt, wie schon so oft in seiner politischen Karriere.

Wenige Stunden zuvor hatte er eine öffentliche Erklärung abgegeben. Es ist, wie sich später zeigen wird, seine Abschiedsvorstellung in Berlin. Die Journalisten im Bundestag kennen ihn als Sozialapostel und Sunnyboy, als rauflustigen Rebellen und notorischen Nörgler, als Spötter und Solisten. An diesem Tag erleben sie einen anderen Seehofer, einen von wachsenden Selbstzweifeln und großer Ratlosigkeit geplagten Kandidaten, den die Bürde der neuen Ämter fast in die Knie zwingt. Als müsse er Halt suchen, klammert sich Seehofer mit beiden Händen am Rednerpult fest. „Die Aufgabe, für die ich jetzt kandidieren werde, ist eine sehr, sehr große und verantwortungsvolle. Es geht schlicht und einfach darum, die Christlich-Soziale Union in ihrem Mythos, in ihrer Einmaligkeit, in ihrer Erfolgsgeschichte der letzten fast fünf Jahrzehnte zu stabilisieren, Verlorenes zurückzugewinnen und die Anforderungen der Zukunft einer modernen, frischen Volkspartei zu erfüllen“, sagt Seehofer ins Mikrofon, den Blick starr nach vorn gerichtet. Wenn man die Last politischer Verantwortung mit Händen greifen könnte, dann in einem Moment wie diesem.

Er hat gekämpft für diesen Traum, fast 30 Jahre lang. Jetzt, da er auf der Zielgeraden ist, beginnt Horst Seehofer zu begreifen, dass der eigentliche Marathon gerade erst beginnt.

Ehrfurcht, Demut, Zweifel? Man hat dem Bundesagrarminister aus Ingolstadt ja vieles nachgesagt in den letzten Jahren. Dass er ein Hasardeur sei, ein selbstverliebter und eitler Einzelkämpfer, einer, der seines Egos wegen sogar sein Parteibuch verkaufen würde. Der künftige Vorsitzende und Ministerpräsident ist nicht sonderlich beliebt auf der Kaviaretage der CSU. „So gut wie jeder hat mit ihm eine Rechnung offen“, behauptet ein Parteipräside. Das mag damit zusammenhängen, dass Seehofer von Geburt an dem Verein für deutliche Aussprache angehört. „Für mich kommt die Loyalität gegenüber der Bevölkerung an erster Stelle, erst dann kommt die Loyalität gegenüber den Grundsätzen der CSU“, hatte der damalige Fraktionsvize 2004 gesagt, als er aus Protest gegen die Gesundheitsreform der Union sein Amt zurückgab. Damals erklärte sich Seehofer selbst für „politisch tot“. Nur ein Jahr später saß er als Bundesminister im neuen Kabinett von Merkel, deren CDU er gerne als „Nickerclub“ verspottet.
Sein ganzes Leben ist eine Auferstehung: Bis aufs Blut bekämpft die deutsche Ärzteschaft ab 1992 den juvenilen Bundesgesundheitsminister, doch Seehofer tritt aus der verlorenen Schlacht als strahlender Reformer hervor. Mit dem Machtwechsel 1998 verliert er sein Amt, profiliert sich aber schnell auf den Oppositionsbänken. Drei Jahre später der bislang gefährlichste Rückschlag: Nach einer verschleppten Grippe erleidet Seehofer einen Zusammenbruch, kommt mit einer lebensbedrohlichen Herzmuskelentzündung gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus. Monate vergehen, bis er wieder arbeiten kann. Die Krankheit ist auskuriert, seine Sucht nach Einfluss und Geltung nicht. 2003 überwirft sich Seehofer erst mit Edmund Stoiber und dessen Basta-Politik („Bei mir geht es nicht nach Befehl und Gehorsam“), im Jahr später dann mit Merkel. Wie häufig in seinem politischen Leben zieht er sich zurück, kapselt sich ab, ist wochenlang für niemanden zu sprechen. Als Seehofer 2005 vorübergehend den Vorsitz des Sozialverbands VdK in Bayern übernimmt, der allein im Freistaat mehr als eine halbe Million Mitglieder hat, schrillen bei der CSU die Alarmglocken: Stoiber fürchtet, Seehofer könnte der Union in seiner neuen Funktion die Hölle heiß machen und eine soziale Gegenbewegung gründen. Der Raufbold wird ruhiggestellt, bekommt wieder ein Ministeramt.

„Ich bin dankbar, dass mir der Herrgott Steherqualitäten gegeben hat“, sagt Seehofer, als er sich im September 2007 auf dem Parteitag um den CSU-Vorsitz bewirbt. Seit Wochen wird er von Boulevardjournalisten und Fotografen verfolgt, die sich für das uneheliche Kind interessieren und die Affäre mit einer jüngeren Juristin. Der vierfache Vater aus Ingolstadt nimmt sich viel Zeit zur Ordnung seines Privatlebens, zu viel Zeit. Über Monate war er der Umfragekönig, jetzt stürzt er ab. Als hätte er nicht schon genug Probleme, teilt Seehofer dann auch noch einem Reporter mit, er habe „viel Material“ über die Umtriebe prominenter Parteifreunde. Die Quittung folgt: Seehofer bleibt unter 40 Prozent, sein Kontrahent Huber wird auf dem Parteitag mit 58 Prozent zum neuen CSU-Vorsitzenden gewählt.

Was er von Günther Beckstein und Erwin Huber und ihrem Tandem hält, sagt er den beiden direkt ins Gesicht. „Es tut mir leid, aber Ihr könnt es einfach nicht.“ Auch diese Szene spielt in einer Lobby. Der Rivale sitzt fest im Sessel, die Doppelspitze versinkt in einem Ledersofa. Wenn es darum geht, seine Meinung zu sagen oder seinen Standpunkt zu wechseln, ist kein anderer in der Union so kühn wie Seehofer. Im Volk und an der Basis mag diese Eigenschaft populär sein. Mal ist er gegen die Kopfpauschale, mal dafür, mal ist er gegen Gentechnik, mal dafür - die Bürger in Bayern nehmen ihm das scheinbar nicht übel. Im Gegenteil: In Umfragen genießt der Quertreiber höchste Glaubwürdigkeit. In einem hierarchischen und harmoniesüchtigen Funktionärsapparat aber schafft man sich mit solchen Volten keine Freunde.

Wenn diesmal alles nach Plan laufen sollte in dieser planlosen Partei, wird der künftige CSU-Chef heute zum designierten Ministerpräsidenten gekürt. Ausgerechnet von einer Landtagsfraktion, die den Bundespolitiker nie hatte leiden können, und über die er sich nur selten wohlwollend geäußert hat. Beiden bleibt keine andere Wahl: Nach der Demontage der CSU ist Seehofer der einzige Hoffnungsträger weit und breit.

Ursprünglich hatte Seehofer in Berlin bleiben wollen, mit Blick auf die Wahl 2009 schielte er schon wieder auf sein geliebtes Bundesgesundheitsministerium. Jetzt tritt er die Nachfolge seines Ziehvaters Franz Josef Strauß an, übernimmt die Spitzenämter in Partei und Staat in einem der schwierigsten Momente in der Geschichte der CSU.

Zum ersten Mal in seiner politischen Karriere habe er „leichten Bammel“ vor der Größe einer Aufgabe, sagt Seehofer am Dienstag, dem Vorabend der entscheidenden Sitzung der Landtagsfraktion. Die Partei sei verunsichert und gespalten, die Erwartungen an ihn allzu hoch, bekennt er im kleinen Kreis. Er sei sich nicht sicher, ob er sie werde erfüllen können.
Horst Seehofer ist sich bewusst, woran er gemessen wird: An der jahrzehntelangen Erfolgsgeschichte der CSU – und an seinen eigenen Worten. Er selbst hatte noch vor einem Jahr damit geprahlt, bei der Landtagswahl seien 60 Prozent drin. Mehr als 50 Prozent müssten es aber auf jeden Fall sein, damit ein Ministerpräsident und ein Parteichef ihre Ämter wirklich verdient hätten. Diese Worte, das weiß Seehofer, richten sich jetzt an ihn selbst.

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